Zur Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik ist es bei einer europäischen Patentanmeldung oder einem europäischen Patent oftmals nötig, den Hauptanspruch in der ursprünglichen Fassung zu ändern, beispielsweise durch eine Aufnahme eines weiteren Merkmals in den Patentanspruch, Einschränkung eines Parameterwertebereichs, Präzisierung eines Begriffs oder Herausstreichen von Alternativen.
Nach Artikel 123(2) EPÜ dürfen die europäische Patentanmeldung und das Europäische Patent nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Dem Artikel 123(2) EPÜ liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem Anmelder nicht gestattet ist, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhelfen würde und der Rechtssicherheit für die Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte.
Die Prüfungs- und Einspruchsabteilungen setzen bei der Zulässigkeit von Änderungen bekanntermaßen recht strikte Maßstäbe an. Als sogenannter „Goldstandard“ gilt, dass eine Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen darf, was der Fachmann der Gesamtheit der ursprünglichen Unterlagen unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens objektiv und bezogen auf den Anmeldetag unmittelbar und eindeutig entnehmen kann.
Spezielle Fallgestaltungen ergeben sich, wenn die Patentanmeldung Merkmalslisten enthält, zum Beispiel:
Bestandteil X ist in einer Menge von 20 bis 80 Gew.-%, bevorzugt von 30 bis 70 Gew.-% weiter bevorzugt von 40 bis 60 Gew.-%, insbesondere bevorzugt von von 45 bis 55 Gew.-% vorhanden.
Das Befestigungselement kann als eine Schraube, ein Nagel, ein Bolzen, ein Stift, oder in Form einer Klebemasse ausgestaltet sein.
Als Faustformel gilt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht mittels Merkmalen eingeschränkt werden kann, welche aus mehreren Listen herausgegriffen wurden (Mehrfachauswahl).
Die Beschwerdekammer 3.3.06 des EPA konkretisiert in ihrer Entscheidung T 1621/16 die Rechtsprechung der Listenproblematik nun für den Fall, dass ein Merkmal anhand einer Liste „konvergierender Alternativen“ beschrieben wird, also wie im ersten oben genannten Beispiel.
Die Kammer entschied hier, dass die Auswahl eines mehr oder weniger bevorzugten Elements aus einer solchen Liste nicht als willkürliche Auswahl behandelt werden dürfe, da diese Auswahl nicht dazu führe, dass eine Erfindung aus einer Vielzahl unterschiedlicher Optionen herausgegriffen würde, sondern vielmehr dazu führe, dass hierdurch die Erfindung auf einen Gegenstand gerichtet würde, der auf einer mehr oder weniger eingeschränkten Version eines Merkmals basiere.
Dabei legte die Beschwerdekammer Kriterien fest, welche erfüllt sein müssen, damit ein Anspruch, der auf der Grundlage einer Mehrfachauswahl aus Listen konvergierender Alternativen geändert wurde, den Anforderungen von Artikel 123(2) EPÜ entsprechend angesehen werden kann.
Die Voraussetzungen hierfür sind:
der Gegenstand, der sich aus der Mehrfachauswahl ergibt, ist nicht mit einem nichtgenannten technischen Beitrag verbunden, und
die eingereichte Anmeldung enthält einen deutlichen Hinweis auf die Kombination der Merkmale, die sich aus der Mehrfachauswahl ergeben.
Der geforderte deutliche Hinweis kann in den Beispielen oder in den speziellen Ausführungsformen der Erfindung zu finden sein. Die Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass wenn ein geänderter Anspruch in eines der Beispiele oder Ausführungsformen falle, dies ein Hinweis darauf sei, dass die Kombination, die sich aus der Mehrfachauswahl ergäbe nicht beliebig sondern vielmehr zweckmäßig sei, nämlich in dem Sinne, dass der Anspruch in Richtung der am meisten bevorzugten Ausführungsform konvergiere.
Merke:
Mit T 16521/16 unterstützt die Beschwerdekammer des EPA insbesondere die Praxis, Merkmale, die mit Zahlenangaben versehen sind, in der Form einer konvergierenden Liste in der Patentanmeldung abzufassen.
Wird der Patentanspruch durch eine engere Bereichsangabe für das betreffende Merkmal eingeschränkt, so unterliegt diese Einschränkung nicht den sonst sehr strengen Kriterien der Zulässigkeit der Mehrfachauswahl. Wichtige Voraussetzung ist dabei allerdings, dass bei der Beschreibung der Ausführungsformen oder Beispiele ein deutlicher Hinweis auf die Kombination der Merkmale zu finden ist, die sich aus der Mehrfachauswahl ergeben.
Technische Beschwerdekammer des EPA, Aktenzeichen: T 16521/16
5. Januar 2021
Thorsten Brüntjen
Patentanwalt